Linkes oder rechtes Hirn?

Stalder’s Insider-Kolumne

Der amerikanische Futurist Ray Kurzweil ist überzeugt, dass in nur wenigen Jahren der Computer die Kapazität des menschlichen Hirns erreicht haben wird. Dass diese These realistisch ist, unterstreicht die Tatsache, dass heute schon Software, Maschinen und Roboter mit künstlicher Intelligenz Arbeiten übernehmen, die bisher von Menschen ausgeführt wurden.

Was das im Alltag heisst, erleben wir am Flughafen, im Buchladen, am Bahnschalter, im Reisebüro, oder bei IKEA, MIGROS, COOP sowie in der Hotellerie: Was die linke Gehirnhälfte kann – also logisches Denken, lesen, analysieren oder sich Wörter und Zahlen merken – das kann ein Computer besser, günstiger und schneller. So erstaunt es nicht, dass unter Kostendruck immer häufiger Menschen durch Maschinen ersetzt werden; dass Kaufhaus-Kassiererinnen durch Scanner, Board-Hostessen durch Terminals, Reisebüro-Mitarbeiter durch Buchungsplattformen und Rezeptionisten durch Check-in-Automaten ersetzt werden und so ihre Arbeitsplätze verlieren.

Interessant ist, dass grad durch die intensive Automatisierung vieler Arbeiten die Nachfrage nach typischen menschlichen Fähigkeiten steigt. Dafür zuständig ist die rechte Hirnhälfte, die auch für Empathie, dem Ziehen von Synthesen, dem Ausdrücken von Wertschätzung und Anerkennung sowie dem Lesen zwischen den Zeilen verantwortlich ist. Wer also fähig ist, seine rechte Hirnhälfte zu aktivieren und sinnvoll zu nutzen, wird auf dem Arbeits- und Kundenmarkt heute und künftig im Vorteil sein. Wer eine mental und körperlich einfache und repetitive Tätigkeit ausführt, hat keine rosigen Zukunftsaussichten.

Das kann ein Computer besser als der «linkshirnige» Mitarbeiter:

  • Gerade heute hat mir eine Rezeptionistin einmal mehr klargemacht, dass Sie für die mündliche Aufnahme der Zimmerreservation nur wenig Zeit hat. Mit dem Hinweis auf das «wartende Check-out», reduzierte sie das Reservations-Gespräch – immerhin für drei Übernachtungen – auf das Abfragen der E-Mail Adresse. Auf der digitalen Norm-Bestätigung wurde auf meine offenen Fragen nicht eingegangen…
  • «Good morning Sir – it’s 7 o clock». Warum weckt mich der Zürcher Rezeptionist auf Englisch? Ein Blick auf die Gäste-im-Haus-Liste würde Auskunft zu Sprach-Code und Aufenthaltsgrund des Gastes im Hotel geben. Informationen, die für einen «rechtshirnigen» Wetter-Gruss oder Glückwunsch zum guten Gelingen des Anlasses genutzt werden könnten. Eben, könnten…
  • Auf der Buchungsbestätigung und auf der Webseite des Hotels wurde nicht auf die eingeschränkte Öffnung der Rezeption aufmerksam gemacht. Hätte ich vor der Anreise nicht explizit nach der spätmöglichsten Anreisezeit gefragt, wäre ich um Mitternacht vor geschlossenen Türen gestanden…

Hier gewinnt der «rechtshirnige» Mitarbeiter beim Kunden:

  • Bei meinem letzten AirBnB-Erlebnis in Winterthur erhielt ich am Morgen folgendes SMS: «Guete Morge – hoffe, Sie hend guet gschlofe – schöne, erfolgriche Tag». Als ich zurückSIMste, dass ich wohl grad die Kaffeemaschine kaputt gemacht hätte, erhielt ich zur Antwort: «Kei Sorge mache, loht sich sicher richte – schöne Tag!»
  • Nachdem ich im Jogging-Dress verschwitzt an der Rezeption des Arosa Kulm Hotels vorbei ins Zimmer gegangen bin, klopft es 5 Minuten später an meiner Zimmertüre. Eine Mitarbeiterin bringt mir einen erfrischenden Durstlöscher und weist charmant auf den Hotel-Spa hin: ein lohnender Besuch, der nach einem Berglauf entspannend auf Muskeln und Geist wirk …
  • Vor der Abfahrt aus der Hotelgarage im Lugano Dante Hotel überreicht mir der Portier lächelnd und mit einem herzlichen Dank für den Besuch eine Flasche Wasser sowie einen Scheibenwischlappen mit Hotel-Logo und Telefon-Nummer für meine nächste Buchung in Lugano…

 

Braucht es wirklich die Visions-Kraft von Futuristen, damit uns endlich klar wird, dass menschliche – also «rechtshirnige» Fähigkeiten den Erfolg in der Hotellerie ausmachen?

Wann realisieren Rezeptionisten endlich, dass ihr Job nicht das Check-In und Check-Out der Gäste ausmacht, sondern ihre Hauptaufgabe das Erfüllen eines unvergesslichen Aufenthaltes ist?

Wann realisieren die Mitarbeiter in den Restaurants, dass sie nicht Völlegefühl verkaufen, sondern kulinarische Erlebnisse vermitteln sollten?

Wann realisieren Hoteliers, dass Kundenzufriedenheit nicht im Büro, sondern an der Gastfront entsteht?

Wann passen Gewerbe- und Hotelfachschulen endlich ihre Lehrpläne an und forcieren bewusst die Fähigkeiten der rechten Hirnhälfte ihrer Azubis und Studierenden?

Quellenverweis: Zum Schreiben dieser Kolumne haben mich Aussagen von Gerd Leonhard – Futurist aus Basel – angeregt.

 


Der Autor: Adrian Stalder, gelernter Koch und dipl. Hotelier, ist heute einer der erfolgreichsten und innovativsten Berater für Hotellerie und Gastronomie. Er führte in den neunziger Jahren u.a. das Hotel Saratz in Pontresina. Heute entwickelt er Restaurantkonzepte wie zum Beispiel jenes vom „Ristorante Seven“ in Ascona. Er hat u.a. auch das Konzept für das Guarda Val in Sporz (Lenzerheide) erarbeitet und umgesetzt. Stalder lebt zusammen mit seiner Frau im Tessin.
adrian@stalderprojects.ch