Das Trinkgeld war noch in den 70er-Jahren lebenswichtiger Lohn-Bestandteil von jedem Service-Mitarbeiter. Nach der Einführung eines gesetzlichen Trinkgeld-Zuschlages von 10% wurde 1974 von Gewerkschaften und Gastgewerbe ein neuer Gesamtarbeitsvertrag verabschiedet. Im neu höheren Salär war nun ein fester Trinkgeld-Anteil eingerechnet, der Dank einem generellen Preis-Zuschlag von 15% auf allen Dienstleistungen direkt beim Gast einkassiert wurde. Im Artikel 14 dieses Vertrages wurde festgehalten, «dass es dem Bedienungspersonal von nun an untersagt sei, auf zusätzliche Bedienungsgelder auszugehen». Der Wirte-Verband verkündete den «endgültigen Tod des Trinkgeldes», denn schweizweit galt nun «Service compris».
In einer Übergangs-Phase wurde noch täglich der Trinkgeld-Anteil von 13.04% vom Umsatz errechnet und direkt dem jeweiligen Service-Mitarbeiter ausbezahlt. Heute ist der AHV-Bruttolohn gemäß geltendem Landes-Gesamtarbeits-Vertrag (L-GAV) die vorgeschriebene Entlohnungsgrundlage, die alle Leistungs-Komponenten pauschal abdeckt. Ein zusätzliches Anrecht auf Trinkgeld gibt es entsprechend seit 40 Jahren nicht mehr. Wie der Kassensturz in einer Umfrage vom Sommer 2012 belegte, ist sich der Kunde der Regelung «Service compris» jedoch nicht bewusst. In der Meinung, dass immer noch ein 10% Zuschlag üblich ist oder die angeblich tiefen Löhne im Gastgewerbe den Zustupf notwendig machen, runden die Kunden auch heute noch die Rechnung im Restaurant, wie auch beim Coiffeur und beim Taxi-Fahrer auf. Viele ergänzen sogar den geforderten Betrag grosszügig mit einem «Overtip». Vielleicht auch deshalb, weil es den einen Gästen Unbehagen bereitet, «nichts» zu geben – oder weil es den anderen einfach Freude macht, eine Top-Dienstleistung zusätzlich zu belohnen. So kommt es, dass 40 Jahre nach der Verkündung des Trinkgeld-Todes das Trinkgeld immer noch wichtiger Einkommens-Bestandteil bei den Mitarbeitern mit Gastkontakt ist. Verständlich, denn der «kleine Batzen hat grosse Wirkung»: das Geld ist «steuerfrei» und gehört – ausser es ist vertraglich etwas anderes vereinbart – demjenigen, der den Service erbracht hat.
Ich selber gebe auch gerne Trinkgeld und es freut mich, wenn Gast- und Dienstleistungs-orientierte Mitarbeiter vom «Overtip» profitieren. Störend ist nur die Selbstverständlichkeit, wie die Branche mit dieser ungeschriebenen Tradition umgeht:
- Ungeniert erscheint die Aufforderung «tip» auf dem Credit-Card-Terminal, noch vor Eingabe der Pin-Nummer oder auf dem Rechnungsbeleg, vor Unterschrift und Zimmer-Nummer.
- Auf keiner Menu- und Getränke-Karte wird auf «Service compris» aufmerksam gemacht.
- Der «Overtip» als monetäre Zugabe wird heute von vielen Mitarbeitern geradezu erwartet. Dies äussert sich im bewusst langen Suchen nach Kleingeld im Service-Portemonnaie oder in der Wartepose des Portiers, nachdem er das Gepäck ins Zimmer gebracht hat.
- Eine Netto-Bezahlung der Rechnung oder der fehlende Batzen nach einer Dienstleistung wird oft als Unzufriedenheit oder gar als Unfreundlichkeit gewertet.
Jeder Chef weiss, dass Trinkgeld in der Branche mit dem Gast ein «heikles Thema» ist, das leicht zu Unstimmigkeiten und heftigen Diskussion im Team führen kann:
- Wenn die Küchenkasse keinen Zustupf vom Service-Team erhält…
- Wenn der Portier nach dem Check-out des Gastes als erster im Zimmer ist und das Trinkgeld einsteckt, das für die Zimmerfrau bestimmt wa …
- Wenn im Service-Team Eifersucht aufkommt, weil jeder gerne in der «guten Station» mit den «guten Gästen» eingeteilt sein möchte…
- Wenn der Maître d’Hôtel sich – dank seinem Punkte-System – ganz unbescheiden den höchsten Anteil des Trinkgeld-Troncs sichert…
- Wenn der hohe Glas-Bruch mit dem Trinkgeld verrechnet wird…
Liebe Hoteliers, bitte klären Sie Ihre Mitarbeiter über die «Service Compris-Regelung» auf und orientieren Sie Ihre Gäste entsprechend. Stellen Sie sicher, dass Freundlichkeit und Gastfokus nicht an zusätzliche monetäre Erwartungen geknüpft werden. Dass jede Art von Tip beim Gast verdankt und nicht als Selbstverständlichkeit angesehen wird. Stellen Sie sicher, dass ein allfälliger «Trinkgeld Tronc» offen mit dem Team abgesprochen und schriftlich vereinbart wird. Vergewissern Sie sich, dass der Verteiler fair ist und im Idealfall auch Abteilungen berücksichtigt, die – wie Küche und Wäscherei – selten von Trinkgeld profitieren. Verzichten Sie auf das Verrechnen von Unternehmer-Risiken wie Geschirr-Bruch oder anderen Schäden mit dem Trinkgeld.
So sorgen Sie dafür, dass das Trinkgeld – das offiziell vor 40 Jahren abgeschafft wurde – nicht wieder zum Thema wird.
Der Autor: Adrian Stalder, gelernter Koch und dipl. Hotelier, ist heute einer der erfolgreichsten und innovativsten Berater für Hotellerie und Gastronomie. Er führte in den neunziger Jahren u.a. das Hotel Saratz in Pontresina. Heute entwickelt er Restaurantkonzepte wie zum Beispiel jenes vom „Ristorante Seven“ in Ascona. Er hat u.a. auch das Konzept für das Guarda Val in Sporz (Lenzerheide) erarbeitet und umgesetzt. Stalder lebt zusammen mit seiner Frau im Tessin.
INSIDER buch-tipp
Stalder’s Kolumnen aus der Hotelwelt
„Adrian Stalder bringt das Thema wirklich auf den Punkt.“ „Toll, wie er der Branche die Augen öfnnet.“ „Seine Kolumnen machen mich so richtig lesesüchtig.“ Adrian Stalders Buch „50 Kolumnen aus der Hotelwelt“ sind ein grosser Erfolg. Das Buch spricht den Hoteliers offensichtlich aus der Seele. Stalder hält der Branche den Spiegel vor – mal mit Augenzwinkern, mal mit erhobenem Zeigefinger. Immer aber konstruktiv und aus der Optik des Gastes, dem wichtigsten „Schauspieler“ auf der Bühne Hotellerie und Gastronomie. So ist das Buch nicht nur für Hoteliers, Gastronomen, Mitarbeiter, Auszubildende und Lieferanten lesenswert, sondern auch für Gäste und Branchenfremde. Sie erkennen sich in den Geschichten wieder und fühlen sich in ihren Bedürfnissen ernst genommen. Der Leser wird feststellen, dass die Kernaussagen auch für andere Unternehmen Gültigkeit haben und die beschriebenen Erfolgsrezepte sich im People-Business von Machern erfolgreich umsetzen lassen.
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